Leben im Ungewissen

06.05.2014 01:39 von Stephanus Parmann

Ein Mitglied von Ärzte ohne Grenzen hielt Vortag über Afghanistan in Rudow

Fotos: Ärzte ohne Grenzen

Lashkar Gah ist eine Stadt in der Provinz Helmland in Afghanistan. Hier, in einer der gefährlichsten Regionen des Landes, arbeitete Volker Lankow im Regierungskrankenhaus als Projektkoordinator für die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“. Am 23. April berichtete er auf einer Veranstaltung des Aktionsbündnisses Rudow in der Alten Dorfschule über die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen, den Einsatz der Hilfsorganisation in Afghanistan und über seine Erfahrungen in der Krisenregion.

Ärzte ohne Grenzen ist bereits während der Sowjetherrschaft in Afghanistan präsent, zieht sich aber 2004 nach 23 Jahren wegen einem gezielten Anschlag zurück. Fünf Mitarbeiter fallen ihm damals in der Provinz Baghdis zum Opfer. 2009 kehrt die Organisation zurück und nimmt ihre Arbeit im Provinzkrankenhaus in Lashkar Gah und im Ahmed Shah Baba Krankenhaus in Kabul wieder auf, erzählt Volker Lankow den rund 35 interessierten Zuhörern. 2011 startet Ärzte ohne Grenzen eine chirurgische Klinik in Kundus und eröffnet 2013 in Khost eine Mutter-Kind-Klinik.

Jeder im Veranstaltungsraum der Dorfschule hat Fantasie genug, um sich vorzustellen, was dieser große und stämmige Mann mit den sanften Gesichtszügen an Leid und Elend gesehen haben muss. Und trotz aller Sachlichkeit und Nüchternheit im Vortrag, wirkt Lankow alles andere als abgebrüht. „Als ich das erste Mal im Krankenhaus war, dachte ich, ich bin auf dem Schlachtfeld“. Überall Bewaffnete!“, berichtet er mit staunender Mine. Eine der Hauptaufgaben von Lankow als Projektkoordinator im Regierungskrankenhaus in Lashkar Gah ist es, mit allen Konfliktparteien zu verhandeln. Dabei muss er allen Beteiligten vor Ort erst einmal klar machen, dass die Organisation ihr Geld nicht von irgendwelchen Staaten bekommt, sondern vollkommen unabhängig ist. Um die Arbeit auf eine breite Basis der Akzeptanz zu stellen, veranstaltet Lankow regelmäßig Treffen mit den wichtigsten Führungspersonen in der Region. „Eine große Schwierigkeit war es, so Lankow, die Menschen dazu zu bewegen, keine Waffen im Krankenhaus zu tragen. Nicht so einfach in einem Land, in dem unter anderem Polizisten ständig Opfer von Gewalt werden. Ziel von „Ärzte ohne Grenzen“ ist es aber, ohne Schutz, deutlich sichtbar und auf Akzeptanz medizinisch zu arbeiten. Das dies nicht immer reibungslos verläuft, ist in Khost spürbar. Dort explodierte im März 2012 in der Mutter-Kind-Klinik eine Bombe und verletzt sieben Personen. Erst nach intensiven Verhandlungen und Sicherheitskontrollen kann die Arbeit Ende 2012 weitergeführt werden. Zu den Aufgaben der Hilfsorganisation gehören eine  medizinische Basisversorgung (zum Beispiel in Flüchtlings – und Vertriebenenlagern) die Ausführung von Ernährungsprogrammen, die Behandlung spezieller Krankheiten wie AIDS / HIV und Tuberkulose sowie die Durchführung chirurgischer und psychosozialer Programme. Insofern ist es für Ärzte ohne Grenzen schwer zu akzeptieren, dass die Basisgesundheitsversorgung in Afghanistan nicht gewährleistet wird und es in den ländlichen Gebieten immer noch einen hohen Bedarf an medizinischer Versorgung gibt, so Lankow.

Die Arbeit von Mitgliedern von Ärzte ohne Grenzen ist hart. Ärzte und Pflegepersonen stehen de Facto im Dauereinsatz rund um die Uhr. Das Gros der Mitarbeiter arbeitet so bis zu sechs Monate in einem Krisengebiet. Lankow selbst war an einem Stück ein Jahr in Afghanistan. „Ich hatte Glück, dass auch meine Frau dort arbeitete“. Zusammen wohnten sie in einer Unterkunft, wo sie selbst hinter verschlossenen Türen die Sitten des Landes beherzigten. Das hieß, Kopftuch tragen in der Wohnung, um den Respekt gegenüber Guards zu bekommen. Das hieß, Verzicht auf Alkohol und sich einrichten auf ein eher spartanisches Leben. Aus Sicherheitsgründen gab es auch nur zwei Bewegungen für Lankow: Mit dem Auto von der Unterkunft in die Klinik und wieder zurück.

Stets das Leid der Menschen vor Augen, ist es für Lankow nicht leicht, die medizinische Unterversorgung im Land zu ertragen. Doch es fehlt an Geldern für Behandlungen und Medikamente, die Wege zu den Gesundheitseinrichtungen sind zu lang und die bewaffneten Auseinandersetzungen erschweren das Ganze noch darüber hinaus. Von daher kommen in drei bis vier Fällen Patienten spät oder erst gar nicht in der Klink in Lashkar Gah an. Besonders nachts finden viele Kämpfe statt. So gehören Schüsse, Granatendonner oder das Geräusch von Bombeneinschlägen aus der Ferne zu den Alltagsgeräuschen der Afghanen und der Mediziner vor Ort. Es ist der Terror und Krieg draußen, der die wenigen Kräfte in der Klinik in Atem hält. In das Regierungskrankenhaus in Lashkar Gah kamen im Jahr 2013 5400 Patienten pro Monat (2012 waren es noch 2200). Davon waren 75 Prozent Notfälle in kritischem Zustand, 30 Prozent davon sind Notfälle, die von außerhalb der Stadt Lashkar Gah kommen, aus einer Distanz von bis zu 150 Km. Im Durchschnitt mussten 470 chirurgische Eingriffe im Monat und 30 Kaiserschnitte vorgenommen werden. „Ohne die Hilfe von einheimischem Personal ist das nicht zu schaffen“, berichtet Lankow und betont, dass es alles andere als leicht war, hier eine Erste-Hilfe-Station aufzubauen. Grund: Weil man dafür vier Ärzte braucht, die je acht Stunden arbeiten. Ein Rhythmus, der für afghanische Ärzte in der Regel nicht in Frage kommt, weil sie etwa drei bis vier Stunden an einem Stück arbeiten. Dennoch habe man auch das geschafft.  

Im Jahr 2012 gaben Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen mehr als 322.000 Konsultationen, halfen bei 16.500 Geburten und führten rund 7.200 chirurgische Eingriffe in den Kliniken in Khost, Kunduz, Kabul und Helmand durch. Die Organisation will sogar ihre Hilfe ausweiten, um den zunehmenden medizinisch-humanitären Bedarf zu decken. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Sicherheitslage dies zulässt.

Im Anschluss an den Bericht von Projektkoordinator Lankow gab es noch die Gelegenheit, zwei typische Flüchtlingsschicksale kennen zu lernen. Zwei Afghanen erzählten, was sie erlebten. Einer von ihnen schilderte wie er miterleben musste, wie Angehörige ermordet wurden. Der zweite, ein junger Mann, erlebte die Bedrohung seiner politisch engagierten Familie durch politische Gegner, die so vehement war, dass ihm nur noch die Flucht als Ausweg blieb. Doch selbst nachdem die Flucht über die Türkei und Griechenland gelungen war, kam der Mann nicht zur Ruhe. Nach miserabler Behandlung in Griechenland folgte eine Odyssee quer durch Europa, die mit der ständigen Angst verbunden war, in ein Land abgeschoben zu werden, in dem für ihn das Überleben einem Sechser in einem Lotteriespiel gleicht.


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